D. Dirlewanger: Les couleurs de la vieillesse

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Titel
Les couleurs de la vieillesse. Histoire culturelle des représentations de la vieillesse en Suisse et en France (1940-1990)


Autor(en)
Dirlewanger, Dominique
Erschienen
Neuchâtel 2018: Éditions Alphil
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 29,90
von
Nicolas Haesler

Der Lausanner Historiker und Geschichtslehrer Dominique Dirlewanger legt mit dieser umfangreichen Studie keine Geschichte des Alters vor. Vielmehr untersucht er, wie sich die politischen und medialen Vorstellungen vom Älterwerden im Laufe des 20. Jahrhunderts in der Westschweiz und in Frankreich verändert haben. Eines der grossen Verdienste dieses Buches ist es, durch die Verbindung einer sozial- und einer kulturhistorischen Perspektive die Komplexität dieser Wahrnehmungen aufzuzeigen.

Im ersten Kapitel zeigt der Autor, wie die politische Wahrnehmung des Älterwerdens in Frankreich und der Schweiz während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Demographen geprägt wurde – insbesondere vom französischen Demographen Alfred Sauvy –, die das Älterwerden als Gefahr für den sozialen und wirtschaftlichen Fortbestand einer Nation und deren kulturelles Selbstverständnis beschrieben. Dieser Tatbestand lässt sich am Beispiel demographischer Diskurse der Zwischenkriegszeit illustrieren, welche die «junge deutsche Nation» gegenüber dem «alten Frankreich» aufwerteten. Im Zuge dieser pessimistischen Betrachtungsweise wurden ausserdem die geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen dem männlichen und dem weiblichen Älterwerden ignoriert (Kapitel 3). Die spezifischen Merkmale des weiblichen Älterwerdens – wie zum Beispiel die durch die Wechseljahre bedingten körperlichen Veränderungen, die finanzielle und berufliche Situation der Witwen – wurden zu diesem Zeitpunkt keineswegs aus einer genderspezifischen Perspektive wahrgenommen, sondern als verfrühter körperlicher Verfall und die Witwenschaft als «Einsamkeit der Seniorinnen» verstanden. Erst ab den 1960er und 1970er Jahren wurde das Älterwerden der Frau auch als Gelegenheit zur Emanzipation wahrgenommen, da sich die Seniorinnen zunehmend von sozialen und geschlechtsspezifischen Pflichten befreien konnten, zum Beispiel durch die Abnahme von Haushaltspflichten durch den Auszug der Kinder. Angesichts der eher negativen Wahrnehmung der Senioren und Seniorinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich die Aufmerksamkeit, die den Hundertjährigen gewidmet wurde, als Ausnahme auffassen, welche die Regel bestätigt. Die wenigen hundertjährigen Alten wurden als Einzelfälle gefeiert und sowohl im politischen wie auch im medialen Diskurs als Vorbilder gesunden Lebensstils und achtbarer Moral inszeniert (Kapitel 2).

Eine erste Veränderung der Wahrnehmung der Senioren und Seniorinnen stellt der geriatrische Diskurs dar, der in der Schweiz ab 1956 immer hörbarer wurde. Im Gegensatz zu den Wahrnehmungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Älterwerden von der Geriatrie nicht mehr als Zerfall («déclin») verstanden, sondern als ein weiterer Lebensabschnitt, der durch steigende Lebenserwartung und Lebensqualität immer grössere Bedeutung erhielt. Doch Dirlewanger zufolge blieb der Grundtenor der geriatrischen Perspektive weiterhin eher negativ, weil das Alter als schwache und krankheitsanfällige Lebensphase betrachtet wurde und weil sich eine begriffliche Verschiebung eingeschlichen hatte, welche die Prekarität des Lebensendes nicht mehr bei den Senioren – «3ème âge» – verortete, sondern etwas später im Greisenalter – «4ème âge». Das Älterwerden verlängerte sich, blieb dennoch geprägt durch soziale, psychologische, körperliche und finanzielle Schwierigkeiten (Kapitel 4).

In den Kapiteln fünf und sechs untersucht Dominique Dirlewanger die Kommissionsberichte Laroque in Frankreich (1962) und Saxer in der Schweiz (1966, «Rapport de la Commission d’études des problèmes de la vieillesse») und deren Einfluss auf die politische Wahrnehmung des Alters. Das Altern wurde nicht nur mehr als demographisches, sondern auch als individuelles Phänomen betrachtet. Damit wurde die Frage nach den materiellen und psychologischen Lebensbedingungen relevant – und ebenso die nach politischen Massnahmen (Kapitel 5). Diese Überlegungen vertieft und veranschaulicht der Autor im Kapitel 6, in dem es um die urbane Raumplanung geht und darum, wie die Stadtplanung die Bedürfnisse der Senioren und Seniorinnen miteinbeziehen musste – so zum Beispiel durch altersgerechte Bauten oder generationenübergreifende Wohnsiedlungen.

Seit den 1970er Jahren setzte eine positivere Wahrnehmung des Älterwerdens ein, die der Autor an verschiedenen Beispielen illustriert. Ausgehend von einer Wahrnehmung des Älterwerdens als eigenständigem, immer länger dauerndem Lebensabschnitt zeigt Dominique Dirlewanger, wie in den 1970er Jahren die Anzahl an Aktivitäten für Senioren zunahm – wie zum Beispiel universitäre Weiterbildung –, um den Übergang zur Pensionierung zu erleichtern (Kapitel 7). Gleichzeitig interessierte sich auch die Wirtschaft erstmals mehr für die Seniorinnen und Senioren, weil diese als aktive Konsumentinnen und Konsumenten erkannt wurden. Zunehmend wurden für sie spezifische Marketingstrategien und Konsumartikel entwickelt. Ähnliches spielte sich auch im politischen Bereich ab. Auch hier wurden die Senioren immer mehr als aktive Akteure verstanden, die ihre Pensionierung selbst gestalten wollten und konnten (Kapitel 8). Damit entstand eine Vorstellung vom Älterwerden, derzufolge die Senioren einerseits isolierte und schwache Personen waren, andererseits aber auch als aktive Partner der Gesellschaft betrachtet wurden, die in die Gesellschaft integriert werden mussten. Am Ende seiner Untersuchung befasst sich der Autor mit den Themen Tod und Sexualität der Senioren, die ab den 1970er Jahren besprochen und allmählich auch enttabuisiert wurden (Kapitel 9). Fragen zur Sexualität der Senioren und Seniorinnen, zum würdigen Sterben oder zur Suizidhilfe wurden von den Medien aufgegriffen und als spektakuläre Themen verbreitet – man denke zum Beispiel an die Sterbehilfe (Affäre des Dr. Hämmerli 1975 im Stadtspital Triemli in Zürich) –, beinhalten aber auch eine soziale Brisanz, die es noch tiefgehender zu erforschen gilt.

Dominique Dirlewangers Studie besticht durch ihre inhaltliche Fülle und durch den eindrücklichen Einblick in Quellen- und Forschungsbestände, was die Lektüre bereichernd, aber zugleich auch etwas unübersichtlich macht. Der Autor bietet einen vielfältigen Blick an, der nicht nur spannend ist, sondern auch der Komplexität des Themas Rechnung trägt.

Zitierweise:
Nicolas Haesler: Dominique Dirlewanger: Les couleurs de la vieillesse. Histoire culturelle des représentations de la vieillesse en Suisse et en France (1940–1990), Neuchâtel: Éditions Alphil, 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 482-483.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 482-483.

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